gemeinsame Stellungnahme Thematik „häusliche und sexualisierte Gewalt“ jetzt aufnehmen in die bundesweiten Rahmenlehrpläne der Pflegeausbildung!
Die Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt ist nicht explizit in den Rahmenlehrplänen für die Pflegeausbildung enthalten und somit nicht verpflichtend für die Pflegeschulen – trotz bestehender Verpflichtungen durch die in Deutschland geltende Istanbul-Konvention und die Vorgabe in der Qualitätsmanagement-Richtlinie des G-BA (s. u.). Gemeinsam mit S.I.G.N.A.L. fordern wir die Fachkommission, welche die Rahmenlehrpläne aktuell überarbeitet, dazu auf, jetzt Abhilfe zu schaffen und das Thema explizit aufzunehmen.
Begründung
Es liegen verschiedene rechtliche Vorgaben, Qualitätsvorgaben und fachliche Empfehlungen vor, die eine Aufnahme der Thematik in die Rahmenlehrpläne weiter rechtfertigen:
- Artikel 15 der Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland zur Aus- und Fortbildung von medizinischem Fachpersonal zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Council of Europe 2011). Gemäß dem Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der Konvention soll das Thema häusliche und sexualisierte Gewalt bei zukünftigen Novellierungen der Pflegeberufe berücksichtigt werden (BMFSFJ 2020).
- Laut Qualitätsmanagement-Richtlinie des G-BA sind Kliniken und Praxen dazu verpflichtet, Missbrauch und Gewalt vorzubeugen, adäquat zu reagieren und intervenierende Maßnahmen vorzuhalten (Gemeinsamer Bundesauschuss 2024).
- Die evidenzbasierten Leitlinien der WHO (2013) empfehlen die Qualifizierung von Pflegepersonal bereits in der Ausbildung.
Hintergrund
Pflegefachpersonen im stationären und ambulanten Bereich haben in ihrem Berufsalltag häufig Kontakt zu Betroffenen und genießen hohes Vertrauen. Sie sind oft die ersten, die Anzeichen für Gewalt erkennen, Patient*innen aktiv und sensibel auf mögliche Gewalterfahrungen ansprechen sowie Wege in das weitere psychosoziale Hilfesystem bahnen können. Das Gesundheitswesen nimmt eine herausragende Rolle im Hilfesystem bei häuslicher und sexualisierter Gewalt ein. Gesundheitsfachpersonen und -einrichtungen können entscheidend zu Sicherheit und Schutz von Betroffenen und ihren Kindern beitragen, den Verarbeitungsprozess positiv beeinflussen und weitere gesundheitliche Folgen verhindern bzw. abmildern.
Das Ausmaß häuslicher und sexualisierter Gewalt ist hoch: Repräsentative Studien zeigen, dass in Deutschland jede vierte Frau bereits entsprechende Gewalterfahrungen gemacht hat (Schröttle 2004, FRA 2014). 64 % der Betroffenen erleiden körperliche Verletzungen, 80 % berichten von psychischen Folgen (Schröttle 2004, FRA 2014). Die Zahl der angezeigten Fälle sexualisierter Gewalt stieg zuletzt um 9,3 % (BKA 2025), das Dunkelfeld ist erheblich größer. Auch Männer und Trans*, Inter* oder Nicht-binäre-Personen können betroffen sein, Kinder sind stets mitbetroffen. Häusliche und sexualisierte Gewalt sind also ein weit verbreitetes gesellschaftliches und Public Health Problem mit gravierenden gesundheitlichen Folgen.
Derzeitiger Stand
Insgesamt sind zum Thema Gewalt bereits verschiedene Aspekte in den Rahmenlehrplänen verankert, darunter Gewalt in der Pflege, Prävention von (sexueller) Gewalt und Kindesmissbrauch (Fachkommission 2019). Die Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt wird jedoch nicht explizit erwähnt und ist damit nicht verpflichtend Teil der Ausbildung. Unsere jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit Berliner Pflegeschulen zeigt, dass das Thema in den schuleigenen Curricula wenig eigeninitiativ aufgegriffen wird. Die aktuelle Überarbeitung der Rahmenlehrpläne bietet die Chance, diese strukturelle Lücke zu schließen und damit einen wesentlichen Beitrag zur besseren Versorgung Betroffener im Gesundheitsbereich zu leisten.
In Bezug auf häusliche und sexualisierte Gewalt sollten in der Pflegeausbildung zukünftig mindestens die folgenden Kompetenzen erworben werden:
- Erkennen von Anzeichen für häusliche und sexualisierte Gewalt
- Sensibler Umgang mit Betroffenen,
- Kommunikations- und Beratungskompetenz,
- Vermittlung an spezialisierte Hilfsangebote und
- Reflexion der eigenen Rolle und deren Grenzen in der Versorgung Betroffener.
Zur Umsetzung des Unterrichts liegen zahlreiche erprobte Schulungscurricula vor, einschließlich das der WHO (WHO 2021; S.I.G.N.A.L. e. V. 2021) sowie der didaktische Impuls „Häusliche und sexualisierte Gewalt – Erkennen und Handeln in der Gesundheitsversorgung“ des Projekts CurAP (Curriculare Arbeit der Pflegeschulen in Berlin unterstützen 2021).
S.I.G.N.A.L. e. V. fordert die Fachkommission auf, die Thematik häusliche und sexualisierte Gewalt explizit in die Rahmenlehrpläne der Pflegeausbildung aufzunehmen.
Diese Stellungnahme wird unterstützt von:
bff Frauen gegen Gewalt e.V.
Betrotroffenenrat Traumanetz Berlin
biz Bildungszentrum
Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe
Frauenhauskoordinierung e.V.
Arbeitskreis Frauengesundheit
Landespflegerat Berlin-Brandenburg
Schule für Gesundheitsberufe Berlin
Pflege in Not
Berliner Krankenhausgesellschaft
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen – BIG e.V.
Quellen
BMFSFJ (2020). GREVIO Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland.
BKA (2025). Polizeiliche Kriminalstatistik 2024.
Bundesgesetzblatt (2018). Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (Pflegeberufe-Ausbildungs- und -Prüfungsverordnung–PflAPrV).
Bohrer, Altmeppen, Junghahn (2021). Häusliche und sexualisierte Gewalt – Erkennen und Handeln in der Gesundheitsversorgung. In: Themenspezifische didaktische Impulse für die neue Pflegeausbildung – eine Handreichung aus dem Berliner Projekt CurAP.
Council of Europe (2011). Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.
Fachkommission nach dem Pflegeberufegesetz (2019). Rahmenpläne der Fachkommission nach §53 PflBG, Bundesinstitut für Berufsbildung.
FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014). Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick.
Gemeinsamer Bundesausschuss (2024). Qualitätsmanagement-Richtlinie/QM-RL.
Schröttle M., Müller U. (2004). Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Berlin.
S.I.G.N.A.L. e. V. (2021). Curricula zur Aus- und Fortbildung von Gesundheitsfachkräften zur Intervention und Ersthilfe nach häuslicher und sexualisierter Gewalt. https://www.signal-intervention.de/sites/default/files/2021-07/21_6_18_…
WHO (2013). Responding to intimate partner violence and sexual violence against women. WHO clinical and policy guidelines. Deutsche Übersetzung des S.I.G.N.A.L. e. V.: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen. Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik.
WHO (2021). Caring for women subjected to violence: A WHO training curriculum for health care providers. Revised edition.